Gymnasium über alles
Wieso die Schulreformtexte aus dem SZ-Feuilleton nerven
Das Feuilleton der Süddeutschen hat wieder zugeschlagen. Burkhard Müller schreibt einen Text über die Bildungsreform. Es ist ein sehr gelehriges Stück, bei dem es teilweise mit dem Verständnis hapert, weil der Autor in einer Sprache spricht, bei der man ahnt: Es muss ihm um höhere Bildung gehen, ums Gymnasium und die Universität und den Verfall der Humboldtschen Sitten etc.
Den Pöbel ausschließen
Man hat sowas in der SZ öfter gelesen, und es ist auch immer die gleiche Spezies von Autoren, die diese Texte schreibt: Der höhere Feuilletonist, der seine Bildungsgüter dringend bewahrt wissen will - und auch geschützt vor einem Pöbel, der durch eine Einheitsschule oder solche Sachen in den Genuss jener Bildung kommen soll, die das Gymnasium von jeher für bestimmte, kleine Schichten reserviert hat. Dass es damit aus ist, kann sich mancher der Kulturschreiber nicht vorstellen, aber bitte.
Der letzte SZ-Mensch, der in dieser Richtung schrieb, war Johan Schloemann mit einem geradezu reaktionären Stück in der SZ am Wochenende im Februar 2010, wo er ziemlich explizit ein scharfe Verknappung des Bildungsguts für Geeignete forderte.
Spezialität gymnasialer Diskurse
Burkhard Müller macht es bisschen versteckter, es geht diesmal – auch das eine Spezialität gymnasialer Diskurse – um die Inhalte. Die Klage lautet: Die ganzen Bildungsreformen abstrahieren von den Inhalten, lehren solcherlei Dinge nur exemplarisch. Müller gipfelt in dem Satz:
„Um doch zu so etwas wie einer Synthese zu gelangen, müsste zuallererst einmal Übereinstimmung erreicht werden, was sich zu lernen lohnt, und zwar um seiner selbst willen. Unzutreffend ist, dass ein bestimmtes Wissen zu erwerben sich nicht mehr rentiere, da jegliches Wissen in kürzester Zeit der Veraltung verfalle. Auch in fünfzig Jahren noch werden die Sprachen im Großen und Ganzen nach demselben Muster funktionieren, werden die Nebenflüsse des Rheins noch sämtlich an Ort und Stelle sein und die Wiesenblumen überwiegend. Damit ist der harte Kern angedeutet, auf dem man beharren sollte und der sich gegebenenfalls aufstocken lässt.“
Mit anderen Worten: Es kommt auf einen Kanon an! Es muss verbindlich festgelegt werden, was zu lernen ist! Und dieser Kanon besteht aus, bitte gut festhalten! Sprachen, Nebenflüssen des Rheins und Wiesenblumen.
Kanon des 21. Jahrhunderts: Selbständigkeit
Man fragt sich wirklich, ob hier jemand nach hinten ins 19. Jahrhundert schreibt oder ob er sich schon mal die Frage gestellt hat, was Schüler und Jugendliche lernen und können sollten, das ihnen das Überleben im 21. Jahrhundert sichert. Ich bin mir – freundlich gesagt - nicht ganz sicher, ob die Kenntnis der Wiesenflora reicht, um sich für einen der nicht mehr lebenslangen, extrem auf Kreativität und Kommunikationsfähigkeit getrimmten Jobs zu qualifizieren, ob die Kenntnis der Nebenarme des Rheins genug Problemlösungskompetenz generiert, um den permanenten Krisen und Katastrophen, die uns heimsuchen, etwas entgegen zu setzen.
Bildungsreform als Backlash
Im Grunde ist der ganze Modus des Textes altbacken und sattsam bekannt. Er ergeht sich in der Klage, dass „alle Bildungsreform diese unergiebige, undialektische Gestalt des Pendelschlags oder Backlashs annimmt“ - also eitel und sinnlos sei. Das ist erstens ein Offenbarungseid: Ok, unsere Schule ist nicht gut, nicht gerecht, nicht gesund (für Schüler, Lehrer und Familien), aber ändern klappt ja irgendwie nicht. Also, lassen wirs!
Und zweitens kann meines Erachtens die Fokussierung Müllers auf einen Kanon keinerlei Gültigkeit mehr haben für eine Schule des 21. Jahrhunderts. Denn sie wird ganz anders aussehen. Sie hat keinen Kanon mehr – es ist nach den Explosionen des Wissens auch ganz unmöglich so etwas festzulegen. Sie hat auch niemanden mehr, der von vorne Kanones vorschreiben könnte. Sondern Schule wird Sinnsuche ermöglichen, indem Schüler sich die Themen – beraten von den Lehrern – weitgehend selber suchen, die sie bearbeiten wollen, genauer: die Krisen des Planeten setzen die Themen. Selbstverständlich wird es auch Stoffe geben, die verbindlich sind und die man auf eine moderne Art wird üben müssen: Es sind jene Kernkompetenzen, die wir gut beherrschen müssen – Schreiben, Lesen, Rechnen, gut Rechnen sogar, komplexe Zusammenhänge verstehen und analysieren. Die Sprachen, einzige Zustimmung, gehören sicher dazu.
Hauptschule als Teil der Schulreform
P.S. Man muss der Vollständigkeit halber sagen, dass Alex Rühle ganz anders drauf ist, auch er aus dem SZ-Feuilleton, der unter die Objekte von Bildungsreform tatsächlich auch Hauptschule subsummiert, z.B. in einem sehr schönen Stück über die Hauptschule.
European Tracking System
Und man muss, um den Kontrast herzustellen, die Texte aus anderen Ländern über Bildung heranziehen, etwa das fantastische Stück von Louis Menand im New Yorker jüngst. Dort besteht nicht die Kernfrage darin, wie man viele ausschließen kann, sondern wie man viele in Bildung, Lernen und Qualifikation einschließen kann. Dort herrscht auch Klarheit darüber, dass eine Beschränkung auf wenige eben der europäische Weg sei:
"This is the tracking approach. You don’t wait twenty years for the system to sort people out, and you don’t waste resources on students who won’t benefit from an academically advanced curriculum. You make a judgment much earlier, as early as middle school, and designate certain students to follow an academic track, which gives them a liberal education, and the rest to follow a professional or vocational track. This is the way it was done for most of the history of higher education in the West. It is still the way it’s done in Britain, France, and Germany."
Kommentarfunktion deaktiviert