26.12.2010
14:49

Berliner Schul-Apartheid der Bürger

Selektion unter der Flagge der Hochbegabung

Formell ging es in einem offenen Brief, den dieser Tage ein Mitglied des Berlin-Pankower Bezirkselternausschusses an Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) schrieb, um hochbegabte Kinder. Angeblich bekommen "begabte und hochbegabte Pankower Kinder" nämlich keinen Platz am Gymnasium. Und werden deshalb benachteiligt - eine "tumbe Attacke auf die Besten", schreibt ein Elternvertreter. Er hat dazu ein ca. 20-strofiges Weihnachtsgedicht verfasst, das so beginnt:

"Im ganzen unserm Lande kennt
man die, die man schlicht Genius nennt.
Neunhundert stellen jedes Jahr
die künftgen Wissenschaftler dar.
und bangen hin zur fünften Klasse,
daß man sie ans Gymnasium lasse."

Diese scheinbar naiv vorgetragene Bitte nach Förderung für besonders Begabte hätte natürlich, würde sie der Senator berücksichtigen, eine ganze andere Folge: Eine weitere Fragmentierung des Berliner Schulwesens - denn angeblich hochbegabte Kinder gibt es im Prenzlauer Berg/Pankow neuerdings zuhauf. Agressiv verlangt eine spezielle Schicht immer mehr und immer absonderlichere Gymnasialplätze. Wer keine Lust auf sechs Jahre Grundschule hat, nennt sein Kind neuerdings hochbegabt. Das kommt heraus, wenn Schulgesetze nicht allgemein gelten, sondern bestimmte Klientele bedienen sollen. 

Pädagogische Selektierer

Klar muss man langsamere wie schnellere Schüler so individuell fördern, wie es nur geht. Die Mitte übrigens genauso. Dafür gibt es auch eine intensive pädagogische Debatte und eine besser werdende Praxis. Aber was einige Selektier-Sektierer letztlich erreichen wollen, ist keine pädagogische Förderung, sondern eine institutionelle Absonderung. Sie wollen eigene Schule für IHRE Kinder - ohne den doofen Rest.

Die angeblich besseren, die besten und die hochbegabten Schüler - jeder kriegt seine eigene Schuhschachtel namens Gymnasium, Sport-Gymnasium, Musik-Gymnasium, Elite-Gymnasium etc. Wenn man aber die vermeintlich Guten und  Besseren alle herausliest, dann bleiben trotzdem immer ein paar übrig. Wo kommen die hin? Genau, die werden herausselektiert in die Schlechtenschulen, da werden sie konzentriert und gesammelt - und einer sedierenden Pädagogik unterworfen.

Selektieren als deutsche Spezialität

Man kann es Hartz IV-Pädagogik nennen oder pädagogische Friedhofsruhe (wie es Hans Wocken tut). Kurz gesagt, ist es nichts weiter als ein pädagogisches Verbrechen, Kinder in Förderschulen zu stecken, weil man diesen Kindern in den Sonderschulen in Wahrheit praktisch das intellektuelle Lichtlein auspustet. Es gibt es eine Vielzahl von Studien, die das belegen, z.B. Lisa Pfahl im WZB-Brief.

Dies ist kein Zufall und nicht Gottes Werk - es hängt unmittelbar damit zusammen, dass bestimmte Leute denken, ihre Kinder hätten ein staatlich verbrieftes Recht auf Förderung OHNE DIE ANWESENHEIT ANGEBLICH DÜMMERER KINDER. 

Das Selektieren ist eine deutsche Superspezialität, wie wir seit 1933ff wissen. Politisch und bevölkerungstechnisch geht das selbstverständlich nicht mehr so einfach wie damals. Aber, Hand aufs Herz, ist der neue Auslesewahn nicht der kleine Bruder von anderen, ebenfalls biologisch begründeten Selektionen? Und exekutiert ihn nicht erneut eine von keinerlei demokratischen Skrupeln angekränkelte Bürgerschicht, die ihren Nachwuchs vom Pöbel absondern will?

Nicht von Dummkinderchen bremsen lassen

Die Begründungen aus dem Offenen Brief an Zöllner sind genau so biologistisch - und erheben ultimativ Anspruch auf politische Folgen: Es gibt superschlaue Kinder, die sind eben klüger, die dürfen nicht durch irgendwelche Dummkinderchen gebremst werden. Also brauchen sie eine eigene Schule!

Pisaversteher meint: Sorry, aber der Staat als der wichtigste Betreiber von Schulen muss nicht Sonderinteressen bestimmter Leute bedienen. Ja, er muss alle Kinder fördern und auch die schnelleren ganz besonders. Aber er hat zuvörderst eine Verfassung umzusetzen, in der es gleiche Rechte und beste Entwicklungschancen für alle Kinder zu geben hat. Punkt.

Hochbegabte in der Sonderschule vergessen

Die Förderung Hochbegabter klappt, wie wir wissen, viel besser in heterogenen Gruppen mit weiten Freiräumen. Allein schon deswegen, weil man dann nicht plötzlich mal einen Hochbegabten in der Sonderschule vergisst - was bislang ziemlich häufig vorkommt.

Vor Hochbegabung hilft ein Blick ins Grundgesetz. Man muss auch nur die ersten drei Artikel lesen, dann weiss man, was geht - und was nicht. It's the democracy, gifted!

Bildungsbürger erhöhen Auslesedruck

Was lernen wir? Das Bürgertum zieht seine Konsequenzen, wenn der Staat mehr Integration einführen will, wie in Hamburg und Berlin praktische Schulpolitik. Wird die Auslese unter vom Staat abgebaut, dann volksbegehrt das Bürgertum dagegen. Oder erhöht den Auslesedruck oben - durch die Forderung nach Spezialschulen für "Hochbegabte".

P.S. Richtig interessant wird es erst, wenn alle verstanden haben, dass das Kellergewölbe des deutschen Schulwesens, die unzähligen verschiedenen Sonderschulen aufgelöst werden müssen. Niemand anderes als die Vereinten Nationen fordern das von Deutschland. Das Zauberwort heißt Inklusion, und es hat zur Folge, dass über 400.000 Kinder, die bislang in Sonderschulen verwahrt werden, ins allgemeine Schulsystem wechseln dürfen. Mal sehen, was das Bildungs-Bürgertum dann macht - denn auch Porschefahrer bekommen ja bisweilen ein Kind, was. z.B. Trisomie 21 hat. In normalen Schulen ist der Erfolg von Down-Kindern unglaublich viel größer, wenn Inklusion pädagogisch gut gemacht wird. 

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